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Seine salomonische Lösung bestand darin, die
Bundeswehr werde sich eben ihre eigenen Tradi-
tionen heranbilden müssen. So weit, so gut. Aber
wieder ist die Sache komplizierter. Ausklammern
oder totschweigen hilft nichts – und funktioniert
offenbar auch gar nicht. Und der Ruf nach der
Eigentradition der Bundeswehr, der auch jetzt
wieder als Patentlösung aufgetischt wird, ist
zwar richtig und dringlich. Die Wehrmachtfrage
ist damit aber nicht vom Tisch. Also ertönt der
Ruf nach Überarbeitung des noch immer gülti-
gen Traditionserlasses von 1982. Darin steht zu
lesen, die Wehrmacht sei im Dritten Reich „teils
schuldhaft verstrickt, teils schuldlos missbraucht“
worden. Das war eine Kompromissformel. Unter
dem Eindruck der sogenannten Wehrmachtsaus-
stellung des Hamburger Instituts für Sozialfor-
schung ging Verteidigungsminister Volker Rühe
darüber hinaus. Er stellte fest: „Die Wehrmacht
war als Organisation des Dritten Reiches in ihrer
Spitze, mit Truppenteilen und mit Soldaten in
Verbrechen des Nationalsozialismus verstrickt.
Als Institution kann sie deshalb keine Tradition
begründen.“ (BT-Debatte, 13. März 1997) Bei
der Würdigung einzelner Soldaten dürfe man
sich „nicht auf rein militärische Haltungen und
Leistungen beschränken.“
Verbunden mit weiteren zeitgemäßen Bewer-
tungen müsste man damit leben können. Doch
sollte das wirklich alles gewesen sein, wenn wir in
etlichenMonaten (oder Jahren?) eine Neufassung
des Erlasses lesen können? Oder ist auch das zu
eng gedacht und zu kurz gesprungen? Der Bun-
deswehrVerband (Die Bundeswehr, Juni 2017)
ist auf einer richtigen Fährte, wenn er anstelle
von neuerlichen Bestandsaufnahmen und Lage-
feststellungen betont, die Bundeswehr habe kein
Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem.
Fehlentwicklungen und Handlungsbedarf sind
bekannt. Und bekannt sind auch die fälligen
Maßstäbe – der Bedarf an Zeit und an Orien-
tierung. Das sind die entscheidenden Voraus-
setzungen, um auch der lahmenden politischen
und historischen Bildung in der Truppe auf die
Sprünge zu helfen. Damit wäre viel gewonnen.
Und doch – der Knackpunkt liegt tiefer! Nicht
nur die Sensibilitäten, die mit der Traditionsfra-
ge verbunden sind, auch die Emotionen, die der
forsche Umgang mit der Truppe hervorrief und
die Beunruhigungen, die die jüngsten Übergrif-
figkeiten unter Soldaten auslösten, weisen in eine
andere Richtung. Gewiss, die Rahmenbedingun-
gen müssen stimmen (das tun sie nicht!), aber es
muss eine Selbstverständigung hinzukommen,
was es bedeutet, hier und heute Soldat zu sein.
Stellt man die Frage so, sind die Skandale und
Aufregungen nur die Spitze des Eisbergs. Der
Abschied von der Wehrpflicht, die Öffnung für
Bewerber, die häufig „arbeiten, aber nicht die-
nen wollen“ (wie ein Oberstabsfeldwebel sagte),
das Übersoll an Management und Bürokratie,
die veränderte sicherheitspolitische Landschaft,
die Vielschichtigkeit der laufenden Einsätze und
Missionen – alles das wirft Fragen nach dem Sol-
datenbild auf. Wie kann man den außerordent-
lichen Anforderungen gerecht werden? Welche
bundeswehrgemeinsame innere Ausstattung ist
notwendig, um sich nicht zu verzetteln oder auf
dem kleinsten Nenner des Spezialisten oder des
Nur-Soldaten zurückzuziehen?
Neben den vielen Trendwenden, die in jüngs-
ter Zeit verkündet worden sind, muss eine weitere
erwähnt werden: Soldat zu sein, ist kein Beruf
wie jeder andere. Das hatte der damalige Vertei-
digungsminister de Maizière vor einigen Jahren
in dankenswerter Deutlichkeit gesagt. Jetzt aber
geht es darum, diese Feststellung – und auch den
Slogan „Wir.Dienen.Deutschland.“ – positiv zu
füllen. Die Bereitschaft, mit dem Leben für den
Auftrag einzustehen, die Verpflichtung zu Tap-
ferkeit und Treue (siehe Eidesformel), der Dienst
an der Gemeinschaft – das alles sind Selbstver-
pflichtungen, die über das normale Maß morali-
scher Pflichten hinausgehen. Aus diesem Grund
und keinem anderen entwickeln Soldaten ein
eigenes Berufsethos, das über die bloße Rechtsbe-
folgung, Gehorsam oder Disziplin hinausweist.
Um das zu verdeutlichen, werden in der Regel die
militärischen Tugenden aufgeführt. Zum Solda-
ten gehören die Tapferkeit, die Treue, die Kame-
radschaft und manches andere. Im Zentrum aber
steht ein Ehrverständnis, das signalisiert, was
man als Soldat tut und was man nicht tut. Wie
man sich verhält, auch wenn keiner zusieht. Das
Berufsethos ist ein professionelles Leitbild, das
uns zum Wächter unserer selbst macht. Nichts
anderes ist übrigens mit dem Kerngehalt der In-
neren Führung gemeint. Dazu gehören zwei wei-
tere Bestimmungen. Dieses Ethos gründet nicht
in persönlichen Loyalitätsbeziehungen (wie der
unselige Eid auf Hitler), und es gilt nicht aus sich
selbst. Maßstab sind Recht und Freiheit. Erst sie
geben den militärischen Tugenden Rang, Einfluss
und Bedeutung.
Aus dem Berufsethos bezieht der Soldat seine
Würde und den Anspruch auf Wertschätzung.
Aber ein Ethos ist kein Defensivinstrument
und kein Vorwand für Dauerklagen. Im Gegen-
teil, es ermutigt dazu, „bei der Sache zu bleiben“,
die Stimme zu erheben, sich einzumischen und
Übergriffigkeiten – seien sie von oben, seien sie
im eigenen Umkreis – entgegenzutreten.
Die Bundeswehr als Gewaltorganisation mag
(und muss) ein „Instrument der Politik“ sein. Der
Soldat ist es nicht. Er ist Staatsbürger, Person,
Subjekt und Partner. Wenn er dies ausschlägt,
riskiert er, der Wertschätzung verlustig zu ge-
hen. War das mit den Soldaten der Wehrmacht
so gänzlich anders? Der Wegweiser durch die
komplizierten und differenzierten Fragen der
deutschen Militärtradition liegt in einem wachen
Bewusstsein für das Ethos des eigenen Berufs.
Leistungen können wir bewundern, von Fähig-
keiten können wir lernen, aber militärische Vor-
bilder bieten mehr als das. Wie sagte doch Prinz
Friedrich Karl von Preußen zu seinen Offizieren:
„Herr, dazu hat Sie der König zum Stabsoffizier
gemacht, dass Sie wissen müssen, wann Sie nicht
zu gehorchen haben.“
Dr. Klaus Naumann
, Militärhistoriker am
Hamburger Institut für Sozialforschung, ist
Mitglied des 14. Beirats für Innere Führung des
Verteidigungsministeriums.
Klaus
Naumann
Foto: privat
Eigene Tradition heranbilden: Im Dezember 1955 haben die ersten Freiwilligen der Bundeswehr
in Andernach ihre Ausrüstung erhalten.
DIE BUNDESWEHR | JULI 2017
T I T E L : B E R U F S E T H O S 9