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oben übersteuert worden. Zu den größten Errun­

genschaften der Wehrgesetzgebung nach dem

Krieg gehört daher die Regelung, wonach die

Entscheidung des zuständigen Disziplinarvorge­

setzten von keinem Vorgesetzten mehr verändert

werden kann, weder abgemildert noch verschärft.

Ein höherer militärischer Vorgesetzter kann das

Verfahren auch nicht erneut aufrollen. Der Grund

dafür ist die Erfahrung, dass höhere Komman­

dobehörden dazu neigen, der Abschreckung mehr

Bedeutung beizumessen als der individuellen

Würdigung; ein „Exempel zu statuieren“. Beson­

ders in totalitären Systemen, aber nicht nur dort.

Ministerin von der Leyen möchte jetzt offensicht­

lich zu den Regelungen vor 1945 zurückkehren.

Verwechselt werden häufig Dienstvergehen und

Wehrstraftaten. Letztere bieten keinem Vorge­

setzten Ermessensspielraum. Jeden Verdacht hat

er den zuständigen Stellen zu melden. Unterlas­

sung ist strafbar. Wenn in aktuellen Fällen vom

Verteidigungsministerium oder in der Öffent­

lichkeit gefordert wird, „härter durchzugreifen“,

so liegt dem offenbar die Befürchtung zugrunde,

unterschätzt oder nicht erkannt wurde, ist natür­

lich. Die Unterstellung eines systematischen Vor­

satzes, aus Korpsgeist, Kameraderie, Sympathie

oder umMissstände zu verschweigen, wenn nicht

zu decken, enthält den ehrverletzenden Vorwurf

einer Pflichtverletzung. Die Unterscheidung, was

erzieherisch, was disziplinar zu regeln und was

in die Zuständigkeit der Justiz fällt, wird in der

Bundeswehr seit Anbeginn sicher beherrscht so­

wie gehandhabt. Zweifelsfälle oder Fehleinschät­

zungen bilden dazu keinen Widerspruch.

Was indessen die politische Öffentlichkeit aus

unterschiedlichsten Beweggründen regelmäßig

auf den Plan ruft, sind Vorwürfe der Duldung

oder Förderung bestimmter politischer Anschau­

ungen oder Bekenntnisse – „Rechtslastigkeit“.

Sie eignen sich in ihrer Unbestimmbarkeit immer

für Schlagzeilen, reflexhafte Empörung und po­

litische Polemik. Niemals konnte nachgewiesen

werden, dass in den Streitkräften jemals ein hö­

heres Maß an staatsgefährdender Gesinnung oder

Betätigung herrschte als an Gymnasien, Univer­

sitäten, in Werkhallen oder Behörden. Dennoch

haften ihnen seit den Zeiten sowjetischer Propa­

ganda gegen die Wiederbewaffnung derlei latente

Verdächtigungen an. Oft gelten die durch irgend­

Der Soldat soll sich

im Dienst weder

zugunsten noch

zuungunsten einer

politischen Richtung

betätigen.

Niemals konnte nachgewiesen werden, dass in

den Streitkräften jemals ein höheres Maß an

staatsgefährdender Gesinnung oder Betätigung

herrschte als an Gymnasien, Universitäten, in

Werkhallen oder Be

hörden.

JÜRGEN REICHARDT

welche Anlässe ausgelösten Kampagnen letztlich

der jeweiligen Regierung, die für das innere Gefü­

ge der Streitkräfte verantwortlich ist. Wiederholt

hat sich aber die Führung selbst, wie gerade ak­

tuell, öffentlich auf die Seite der Kritiker gestellt,

was die Truppe außerordentlich befremdet.

Die Verallgemeinerung einzelner Vorfälle ver­

kennt die ethischen Grundlagen unserer Streit­

kräfte und führt zu kränkenden Vorurteilen. Der

Soldat soll „Deutschland treu dienen“. Er soll das

Recht und die Freiheit des „Deutschen Volkes“

verteidigen. Das entstammt dem Wortschatz des

Grundgesetzes.Ist,werdaswörtlichnimmt,rechts­

radikal? Der Soldat – somit auch der Vorgesetzte

– soll sich im Dienst nicht zugunsten, aber auch

nicht zuungunsten einer „politischen Richtung“

betätigen. Daraus hat sich die Zurückhaltung der

Vorgesetzten in Fragen politischer Anschauun­

gen entwickelt. Gilt das als „Führungsschwäche“

bestimmter „Ebenen“? In der politischen Bildung

lernt der Soldat, dass nicht Gesinnungen strafbar

sind, sondern Handlungen, Taten. Soweit poli­

tische oder weltanschauliche Ansichten nicht in

Konflikt mit den Grundpflichten nach dem Sol­

datengesetz geraten, kann eine vorsorglicheMelde­

pflicht über bedenkliche Meinungen, wie sie jetzt

verlangt worden ist, ernstlich nicht gefordert wer­

den. Eine Armee, in welcher Gesinnungsschnüf­

felei und Denunziantentum zur Führungskultur

gehören, kann auf Kameradschaft, selbstständiges

Handeln im Sinne des Ganzen und Vertrauen in

Vorgesetzte wie Untergebene vollständig verzich­

ten. Was sie dann taugt, ist eine andere Frage.

Generalmajor a.D. Jürgen Reichardt

war vor

seiner Pensionierung im Jahr 1998 Amtschef des

Heeresamts in Köln. In seinem Ruhestand ist er als

Autor tätig.

Der Artikel erschien am 20. Mai 2017 im

„Straubinger Tagblatt“.

Foto: Bundeswehr/Twardy

der zuständige Disziplinarvorgesetzte habe nicht

sachgerecht gewürdigt und entschieden oder nicht

pflichtgemäß ermittelt. Ein Vorgesetzter, der das

täte, verletzte seine Pflichten. Zuweilen wird ange­

nommen, bei frühzeitiger Kenntnis hätten höhere

Stellen auf Dienstvergehen anders, also strenger,

reagiert. Das kann zutreffen und lässt sich prüfen.

Außer Acht bleiben darf jedoch nicht, daß der Dis­

ziplinarvorgesetzte stets verpflichtet ist, auch die

Persönlichkeit des Beschuldigten zu würdigen und

zu prüfen, inwieweit erzieherisch anstatt repressiv

vorgegangen werden kann. Das unterscheidet die

WDO vomWehrstrafgesetz.

Alle höheren Vorgesetzten, die durch diese

Schule gegangen sind, dürften für sachgerechte

Entscheidungen der Disziplinarebenen das nöti­

ge Verständnis aufbringen, auch wenn ein Vorfall

spektakuläre Reaktionen auslöst und eine Ent­

scheidung nicht den Erwartungen der Öffent­

lichkeit entspricht. Eine „Führungsschwäche“

liegt darin nicht. Solches Verständnis als „Korps­

geist“ zu beschreiben zeugt von Unkenntnis un­

seres Disziplinarwesens, das schließlich auf dem

Soldatengesetz fußt, dieses auf dem Grundgesetz.

Dass Meldungen über besondere Vorkommnis­

se gelegentlich unterbleiben, weil die Tragweite

DIE BUNDESWEHR | JULI 2017

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